Was bedeutet Agilität? Neue dynamische Rahmenbedingungen
Die Digitalisierung wäre nicht möglich ohne die exponentielle Steigerung der Leistungskapazitäten von Computern. „Moore’s Law“ beschreibt das Phänomen, dass sich die Anzahl der Transistoren auf einem Computerchip seit 1970 etwa alle zwei Jahre verdoppelt hat. Die gewaltige Rechenkraft, die uns heute zur Verfügung steht – das Millionenfache jener aus dem Jahre 1970 –, hat Anwendungen wie Big Data und künstliche Intelligenz im großen Maßstab erst möglich gemacht.
Um vor Augen zu führen, was exponentielles Wachstum bedeutet, ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie gehen 30 Schritte. Ein Schritt trägt uns normalerweise circa 1,5 Meter weit. Nehmen wir aber an, dass sich die Schrittlänge mit jedem Schritt verdoppelt. Beim zweiten Schritt sind es also schon 3 Meter, beim dritten Schritt 6 Meter und so weiter. Was denken Sie: Wo landen Sie nach 30 Schritten? Sind Sie noch in derselben Stadt? Im selben Land? Noch auf dem gleichen Kontinent?
BANI-Modell
Gepaart mit ihrer exponentiell gesteigerten Leistungskapazität sorgt die Vernetzung von Computern über das Internet für eine globale Verflechtung von Menschen, Prozessen und Wirtschaften. Das birgt neue Chancen und Herausforderungen für Unternehmen. Die Herausforderungen werden mit den Dimensionen der Brüchigkeit, Verunsicherung, Nichtlinearität und Unverständlichkeit – kurz: „BANI“ – beschrieben.
VUCA-Modell
Ersetzt hat dieses Konzept das in den 2000er-Jahren genutzte „VUCA“-Modell, das sich vor allem auf die Fortschritte in der Digitalisierung bezog. Seither prägten die Pandemie, Lieferkettenprobleme, aber auch politische Unsicherheiten oder die Veränderungen durch den Klimawandel ebenso stark das Geschehen. Handelnde Unternehmer:innen sind vor diesem Hintergrund gut beraten, ihr Geschäfts- und Betriebsmodell agil an die vielen Neuerungen anzupassen. Und wo die gewohnte Vorherseh- und Planbarkeit abhandenkommt, hat auch die traditionelle Hierarchie als präferierte Organisationsform der „analogen Welt“ ausgedient. Unternehmen müssen vielmehr ihre Organisation als Ganzes agil gestalten, um sich auf die neuen dynamischen Rahmenbedingungen einzustellen.
Denn – um das Gedankenexperiment aufzulösen – mit 30 Schritten sind Sie einmal zum Mond und zurück und anschließend nochmal knapp um den ganzen Globus geschritten. Sie haben sich verschätzt? Kein Wunder: Unser Gehirn ist nicht darauf ausgerichtet, exponentielles Wachstum zu begreifen. Das macht umso deutlicher: Langjährige Unternehmensplanungen als Indikatoren für erfolgreiche Strategien haben ausgedient.
Die richtige Definition von Agilität
Agilität als Antwort auf gestiegene Anforderungen: Die zuvor beschriebene Verquickung von neuen Technologien und ihren Wechselwirkungen mit dem Geschäfts- und Betriebsmodell verdeutlicht:
Agilität bedeutet mehr als nur die Anwendung agiler Methoden. Es handelt sich um einen umfassenden Ansatz, der darauf abzielt, die Anpassungsfähigkeit von Individuen, Teams und Organisationen insgesamt zu steigern.
Merkmale des agilen Ansatzes sind folgende:
- Kundenfokus: Agilität in Organisationen beginnt mit einer intensiven Zusammenarbeit mit den Kunden sowie deren Einbeziehung, die es ermöglicht, schnell und präzise auf die sich wandelnden Bedürfnisse und Erwartungen der Kunden einzugehen. Dazu gehören im ersten Schritt die Identifikation und das Verstehen der Kundenbedürfnisse sowie abschließend die Überprüfung erster prototypischer Lösungsansätze. Diese Einbindung des Kundenfeedbacks ist fester Bestandteil des agilen, komplexen Projektmanagements.
- Iterative Prozesse: Der Einsatz sich wiederholender Zyklen ist ein Schlüsselelement agiler Organisationen, das darauf abzielt, kontinuierlich zu lernen, neue Informationen in den Projektplan aufnehmen und sich rasch an veränderte Gegebenheiten anpassen zu können. Kurze Entwicklungszyklen ermöglichen es, schnell vorläufige Ergebnisse zu produzieren und auf dieser Basis Rückmeldungen einzuholen. Letztere erhält das Team durch relevante Stakeholder oder unabhängige Nutzende und Kunden. So gelingt es, sich Stück für Stück den Bedürfnissen aller Beteiligten anzunähern, ohne die Gefahr, bei falschen Entscheidungen viele Ressourcen verschwendet zu haben.
- Funktionsübergreifende Teams: Agile Organisationen setzen auf crossfunktionale Teams, die ein breites Spektrum an Fachwissen abdecken, die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachbereichen fördern und zu einer ganzheitlichen Sichtweise beitragen. Die dadurch beförderte End-to-End-Verantwortung bedeutet, dass die Verantwortung für Ergebnisse und den Prozess von Anfang bis Ende innerhalb des Teams liegt. Abhängigkeiten nach außen werden somit minimiert und die Abstimmungsprozesse deutlich beschleunigt. Dies führt zu einer höheren Selbstbestimmung und Motivation der Teammitglieder.
- Eigenverantwortung: Innerhalb festgelegter Strukturen und Prozessabläufe geht das agile Arbeiten Hand in Hand mit einem Führungsverständnis, gemäß dem die Mitarbeitenden unterstützt und befähigt werden, eigene Entscheidungen zu treffen und unabhängig zu handeln. Hohes Vertrauen und Mut sowohl hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten als auch in Bezug auf die Rückendeckung durch die Teammitglieder sowie die Führungskraft fördern kreatives Denken und innovative Lösungsvorschläge.
Warum ist Agilität in Unternehmen so wichtig?
Die oben genannten Merkmale deuten auf eine Reihe von Wirkmechanismen hin, die im Zuge der agilen Organisationsgestaltung Berücksichtigung finden müssen.
Wichtige Dimensionen sind unseren Erfahrungen nach folgende:
- Mensch und Mindset: Bei diesem wesentlichen Aspekt des Agilitätsverständnisses stehen der Mensch und seine innere Haltung im Fokus. Egal ob Kunde oder Mitarbeiterin: Entscheidend sind eine positive Einstellung zu Veränderungen, offene Kommunikation und eine Kultur des kontinuierlichen Lernens, die das Fundament für ein agiles Zusammenarbeitsmodell bildet.
- Führung und Steuerung: Das Führungsverständnis in agilen Organisationen unterscheidet sich grundlegend von traditionellen Ansätzen und orientiert sich an Empowerment, Coaching und Unterstützung. Hier fallen oft Begriffe wie Servant Leadership oder laterale Führung, deren Ansatz es ist, die Eigenverantwortung und Selbstorganisation von Teams zu fördern. Steuerungsmethoden werden im agilen Kontext genutzt, um die Transparenz, Effizienz und die Zusammenarbeit innerhalb des Teams zu steigern, und werden somit auch vom Team selbst gestaltet bzw. definiert. Verbreitete Formate sind Elemente aus dem Scrum-Framework, wie Retrospektiven und Reviews, oder Objectives and Key Results (OKR).
- Innovationsmethoden: Die Anwendung innovativer Methoden wie Design Thinking oder Scrum ist integraler Bestandteil agiler Organisationen, die kontinuierliche Verbesserungen und kreative Lösungen fördern. Diese Methoden bilden zudem einen sinnvollen Einstieg in die Welt des agilen Arbeitens, da sie niedrigschwellig sind, situativ eingesetzt werden können und vorab keiner gesamthaften agilen Transformation bedürfen. Aber: Sie sind in keinem Fall Selbstzweck. Es sollte vorab immer klar sein, um welche Art von Problem es sich handelt und inwiefern eine bestimmte Methode darauf die Antwort bieten kann.
- Flexible Organisationsstruktur: Agilität manifestiert sich in einer flexiblen Organisationsstruktur, die sich dynamisch an die Anforderungen und Veränderungen anpasst sowie traditionelle Hierarchien durch vernetzte Teams ersetzt. Das bedeutet beispielsweise, in Rollen anstatt in Positionen zu denken, Meetingstrukturen und Zusammenarbeitsmodelle (neu) zu definieren und an der Wirkung auszurichten.
- Technologie: In agilen Organisationen wird Technologie als treibende Kraft für Innovation und Effizienz genutzt; sie leistet somit einen bedeutenden Beitrag zur Umsetzung agiler Ideen. Auch traditionellere Industrien sollten technologisch so aufgesetzt sein, dass sie anpassungsfähig sind und schnell reagieren können.
- Offene Arbeitsumgebung: Die Einrichtung von Räumlichkeiten, in denen sich Teams selbstorganisiert und flexibel bewegen können, ermöglicht neue Modelle der Zusammenarbeit. Architektur kann auch den Austausch von Ideen sowie das Geben und Annehmen von Feedback fördern, und sie trägt dazu bei, eine transparente und kollaborative Kultur in agilen Organisationen zu etablieren.
- Im Kern des Ganzen steht die Frage nach dem WARUM. Agile Organisationen werden durch einen gemeinsamen Sinn und fest definierte Leitprinzipien zusammengehalten, mit denen sichergestellt wird, dass die Mitarbeitenden auf dasselbe Ziel hinarbeiten, und die zudem als Orientierungspunkte dienen, um den Fokus auf das Wesentliche zu legen.
Was ist organisatorische Agilität?
Der Weg hin zu einer agilen Organisation ist vielschichtig. Bedeutend ist die Erkenntnis, dass es nicht die eine Schablone für alle Organisationen gibt. Stattdessen sollten Unternehmen den Transformationsprozess und die Ausprägung der unterschiedlichen Dimensionen mit Blick auf die individuelle Positionierung, Strategie und Kultur festlegen.
Die Beteiligung und Befähigung der Mitarbeitenden sowie eine förderliche Kommunikation sind dabei wichtige Erfolgsfaktoren.
Bei der Transformation von einer klassischen zu einer agilen Organisation stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, die je nach dem gewünschten Fokus eingesetzt werden können. Unseren Erfahrungen nach sollte hinsichtlich ihrer Tragweite zwischen zwei Ansätzen unterschieden werden: der teamweiten Agilität und der organisationsweiten Agilität.
- Teamweite Agilität: Mit einem Fokus auf teamweiter Agilität werden die Autonomie und schnelle Reaktionen auf Veränderungen auf Teamebene betont, wobei Methoden wie Kanban, Scrum oder Design Sprints Anwendung finden.
- Organisationsweite Agilität: Die organisationsweite Agilität strebt eine koordinierte und schnelle Anpassungsfähigkeit auf organisatorischer Ebene an, wobei Methoden wie OKR, SAFe/LeSS oder Holokratie eine umfassende Transformation ermöglichen.
Herausforderungen bei der agilen Transformation
Die Einführung von Agilität in einem Team oder der gesamten Organisation birgt Herausforderungen, die über eine reine Beeinflussung der formalen Aufbau- und Ablauforganisation hinausgehen. Sie erfordert einen tiefgreifenden kulturellen Wandel.
Wie Sie sicher schon selbst erleben konnten, kann die Umgestaltung Unsicherheiten und Widerstände bei den Mitarbeitenden hervorrufen, welche identifiziert und bewältigt werden müssen. Dabei sollten die Initiator:innen folgende Ansätze in der agilen Transformation berücksichtigen:
- Klare Kommunikation: Da Veränderungen in Organisationen oft mit Sorgen und Ängsten verbunden sein können, ist es entscheidend, dass Transformationsprozesse kommunikativ begleitet werden. Es ist wichtig, Ziele, Kernbotschaften und Erfolge klar zu kommunizieren, um Verständnis zu fördern und Hemmnisse abzubauen.
- Partizipation der Mitarbeitenden: Eine Einbeziehung aller Beteiligten in den Veränderungsprozess fördert die Identifikation und Akzeptanz. Durch partizipative Ansätze werden die Erfahrungen und Ideen der Mitarbeitenden genutzt. Hierbei kann auch die schrittweise Einführung über ein Pilotprojekt hilfreich sein.
- Befähigung: Mitarbeitende müssen befähigt werden, die neuen agilen Prinzipien umzusetzen. Dies beinhaltet etwa Schulungen, Coachings sowie die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen und Werkzeuge.
- Führungsvorbild: Führungskräfte spielen eine entscheidende Rolle als Vorbilder. Ihr Verhalten und ihre innere Haltung gegenüber der Veränderung beeinflussen maßgeblich die Akzeptanz und Umsetzung der Agilität in der Organisation. Nur wenn Klarheit über das gemeinsame Zielbild herrscht, kann die Veränderung aktiv unterstützt und kommuniziert werden. Dies gilt für alle Führungskräfte vom Gruppenleiter bis zur Vorständin.
- Flexibilität: Die Bereitschaft, flexibel auf Veränderungen zu reagieren, ist essenziell. Ein rigides Festhalten an alten Strukturen und Denkweisen kann den Erfolg der Transformation behindern. Das gilt sowohl für bestehende Strukturen als auch für die Möglichkeit zur Anpassung während des Transformationsprozesses selbst. Es ist wichtig, auf Feedback zu hören, Fortschritte zu evaluieren und die Strategie bei Bedarf anzupassen, um nachhaltige Veränderungen zu gewährleisten.
Agilität ist kein starres Konzept, sondern erfordert vielmehr eine ständige Anpassung und Evolution. Die agile Transformation ist daher ein kontinuierlicher Prozess, der sich auf die Schaffung einer dynamischen, lernenden Organisation konzentriert.
Fazit: die Notwendigkeit der Agilität im Wandel
In einer Welt, die von ständigem Wandel und Unsicherheit geprägt ist, wird die Agilität zu einem unverzichtbaren Werkzeug für Organisationen, um sich an ihre Außenwelt anzupassen und erfolgreich zu bleiben.
Die Anwendung agiler Prinzipien und Methoden bietet nicht nur die Möglichkeit, schneller auf Veränderungen zu reagieren, sondern fördert auch eine kollaborative und innovationsgetriebene Kultur. Dabei ist zu betonen, dass es kein „Schema F“ gibt, mit dem Organisationen ihre Veränderungsprozesse erfolgreich in die Umsetzung bringen. Jede Organisation ist so individuell wie die Menschen, die in ihr arbeiten, und entsprechend vielfältig sind die Lösungen und Methoden, aus denen sie sich bedienen sollten.
Der Weg zu einer agilen Organisation mag komplex sein, aber die Vorteile in Bezug auf Flexibilität, Kundenorientierung und Innovationskraft machen ihn zu einem notwendigen Schritt in das Zeitalter der digitalen Revolution. Wichtig ist vor allem eins: anzufangen!