Was bedeutet die Arbeitsmarktsituation für die Unternehmen?
Sichtbarste Beispiele waren nach Wegfall der Coronabeschränkungen die „plötzlich“ fehlenden Mitarbeitenden im Gaststättengewerbe und an den Sicherheitskontrollen der Flughäfen. Hier haben sich während der Pandemie zahlreiche Arbeitnehmende andere Beschäftigungen gesucht. Diese Abwanderungen konnten nur in Teilen wieder rückgängig gemacht werden und führen weiterhin zu Engpässen.
Aus dem Wort „Fachkräftemangel“ ist „Fach“ zukünftig zu streichen
Die Pandemie hat dabei wie ein Katalysator einen zuvor schon bestehenden Trend beschleunigt: Der Arbeitskräftemangel wird zukünftig verstärkt auch dort zu spüren sein, wo zur Aufnahme der Tätigkeit keine besonderen Fachkenntnisse erforderlich sind.
Simon Jäger, der Arbeitsmarktexperte und Leiter des Instituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn führte dazu jüngst in einem Interview[1] aus:
Aufgrund des technologischen Fortschritts gibt es mehr Nachfrage für Tätigkeiten an beiden Enden der Lohnverteilung, also am oberen Ende und am unteren Ende. Es werden hochkomplexe Tätigkeiten stärker nachgefragt, beispielsweise von Softwareentwicklern, aber auch im medizinischen Bereich.
Mehr nachgefragt werden auch sehr einfache Dienstleistungstätigkeiten, beispielsweise Helfertätigkeiten im Bereich Gartenbau, also solche Tätigkeiten, die sehr schwer durch Maschinen ersetzbar sind, weil es keine Routinetätigkeiten sind und weil jeder Arbeitsschritt sehr individuell ist.
Hinzu komme eine
Situation, in der die Marktkräfte sagen, dass in bestimmten Bereichen die Arbeitsverhältnisse nicht attraktiv genug sind, um Anreize zu geben, dass Menschen aus anderen Bereichen da hinein wechseln. Deswegen erwarte ich, dass sich dort, wo wir gerade besonders stark einen „Fachkräftemangel“ haben, etwas im Bereich der Löhne und im Bereich der Arbeitsbedingungen tun wird.
Wettbewerb um Personal
Neben dem Wettbewerb um Aufträge und Kunden befinden sich die Unternehmen zusätzlich in einem Wettbewerb um Personal. Bei Vakanzen mit hohen Anforderungen an Ausbildung sowie Berufserfahrung haben die Kandidatinnen und Kandidaten weiterhin freie Auswahl und können aus einem breiten Angebot an Stellen wählen. Es ist ein „Käufermarkt“, auf dem sie die Bedingungen nahezu frei bestimmen können, und die Unternehmen sind nach wie vor bereit, für diese Zielgruppe mehr anzubieten als für weniger qualifizierte Bewerber/-innen.
Für Stellenprofile mit einfacheren Tätigkeiten, bei denen die Anforderungen nicht so hoch sind, waren die Unternehmen bislang nicht bereit, besondere Konditionen einzuräumen. Diese Stellen ließen sich ja immer leicht besetzen. Dabei ist deren Anteil nach wie vor hoch. Dies zeigt eine aktuelle Studie der Industrie- und Handelskammer[2], nach welcher Unternehmen aller Größen weiterhin erfolglos Mitarbeitende suchen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung benötigen. Unter kleinen Unternehmen mit weniger als 200 Beschäftigten suchen bis zu 36 Prozent ohne Erfolg nach solchen Arbeitskräften, bei großen Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten ist es immerhin noch gut ein Fünftel.
Grundsätzlicher Personalmangel und Personalfluktuation
Es ist also ein Fachkräftemangel, aber eben nicht nur ein Mangel an Fachkräften, sondern ein grundsätzlicher Mangel an Personal. Denn es gibt weiterhin Tätigkeiten, die sich nicht automatisieren lassen (z. B. im Facility-Management) oder bei denen sich eine Automatisierung nicht lohnt, weil sie nur selten oder unregelmäßig auszuführen sind. Hinzu kommt, dass bei Digitalisierungen oft nicht alle Tätigkeiten automatisiert werden können. Sei es, weil sich in Altsystemen noch Vorgänge finden, die in standardisierten Systemen nicht hinreichend zu vertretbaren Kosten abgebildet werden können oder weil Mitarbeitende manuelle Kontrollen oder simple Eingabetätigkeiten an den Systemen durchführen müssen.
Kandidatinnen und Kandidaten für solche Tätigkeiten können nun ebenfalls leichter entscheiden, welche Konditionen sie bereit sind zu akzeptieren. Wegen der geringen Eintrittshürden in diesem Segment fällt ein Wechsel zu einem anderen Unternehmen sogar noch leichter.
Bieten statt versprechen
Die Unternehmen lernen also gerade, was es heißt, sich in einem Käufermarkt zu bewegen. Und sie lernen: Im Wettbewerb um Arbeitskräfte müssen sie jetzt wirklich etwas bieten und nicht nur wie in der Vergangenheit etwas versprechen. Dabei sind die Anforderungen nicht auf Lohn und Arbeitszeit begrenzt. Bei den Hochqualifizierten zählen unter anderem Sinnhaftigkeit der Aufgaben, Unternehmenskultur sowie Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu wichtigen Entscheidungskriterien. Bei weniger Qualifizierten ist die Situation ähnlich. Unternehmen, die wenig bezahlen und prekäre Arbeitsumstände bieten, werden deshalb kaum noch Interessierte finden.
Höhere Gehälter sind nicht die Lösung
Wer in diesem Wettbewerb um Arbeitskräfte – und nicht nur um Fachkräfte – bestehen will, ist gut beraten, nicht nur über höhere Gehälter nachzudenken.
Das wird bestätigt durch eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2022, die das Meinungsforschungsinstitut forsa im Auftrag von XING E-Recruiting mit 2.523 Arbeitnehmenden aus Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz durchgeführt hat.[3]
Danach sind die Top 5 Gründe, aus denen Mitarbeitende kündigen:
- Führungsverhalten (28 Prozent)
- Bessere Work-Life-Balance (27 Prozent)
- Attraktiveres Tätigkeitsfeld (24 Prozent)
- Finanzielle Anreize (19 Prozent)
- Attraktivere Position (15 Prozent)
Finanzielle Anreize sind zwar unter den Top 5 der Gründe für eine Kündigung, belegen aber nur den vierten Platz. Viel entscheidender sind laut Studie das Führungsverhalten und das Arbeitsumfeld.
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„(erforderlich)“ zeigt erforderliche Felder an
Sechs Kernfelder werden für Unternehmen wichtig
Für die Unternehmen geht es also neben der Einstellung neuer Mitarbeitenden auch darum, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das im Wettbewerb mit anderen Organisationen bestehen kann. Denn neu gewonnenes Personal nützt wenig, wenn es das Unternehmen innerhalb kurzer Zeit wieder verlässt.
Vielmehr müssen sich die Unternehmen nun für alle Zielgruppen in sechs Kernfeldern wettbewerbsfähig machen:
- Arbeitsumfeld und Organisation
(z. B. Homeofficemöglichkeiten, Arbeitszeiten, Teilzeitmöglichkeiten, Equipment) - Vergütung und Benefits
(z. B. geldwerte Vorteile, betriebliche Altersversorgung, Arbeitsmittel zur privaten Nutzung) - Entwicklung und Aufstieg
(z. B. regelmäßiges Feedback, Karriereplanung, Weiterbildung, Aufstiegsmöglichkeiten) - Employer Branding und Marketing
(z. B. Management von Bewertungsportalen wie kununu, Mitarbeitende-werben-Mitarbeitende-Programme, Social-Media-Präsenz) - Kultur und Kommunikation
(z. B. Unternehmens- und Führungskultur, Mitarbeiterbefragung/Engagement Survey, transparente Kommunikation von Zielen und Werten, Work-Life-Balance) - Gesundheit und Freizeit
(z. B. betriebliches Gesundheitsmanagement, Gesundheitskurse und -beratung, Vermeidung von Überstunden, Möglichkeiten für ein Sabbatical)
Nur wer alle Felder im Blick hat und diese gezielt steuert, wird zukünftig noch ausreichend Mitarbeitende finden und langfristig an das Unternehmen binden können.
Fazit zum Personalmangel
Aus dem Wort „Fachkräftemangel“ ist „Fach“ zukünftig zu streichen, denn in Wahrheit gibt es mittlerweile einen Personalmangel. Unternehmen, die im Wettbewerb um Personal vorne liegen wollen, konzentrieren sich nicht nur auf hochqualifizierte Fachkräfte, sondern gehen das Thema ganzheitlich für alle (potenziellen) Mitarbeitenden an.
Attraktive Arbeitgeber, die ihre Hausaufgaben gemacht haben und die sechs oben genannten Kernfelder aktiv managen, werden es im Wettbewerb zukünftig leichter haben, ausreichend Mitarbeitende zu finden und langfristig an das Unternehmen zu binden.