„DeFi is eating Finance”: Was bedeuten dezentrale Finanzen für Finanzdienstleister?

DeFi (Decentralized Finance) hat das Potenzial, die Finanzwelt nachhaltig zu verändern. Schon heute sind bestimmte Anwendungsfälle weitaus effizienter als bei traditionellen Finanzdienstleistern. Marc Andreessen erhielt vor zehn Jahren mit seinem Artikel „Software is eating the world“ große Aufmerksamkeit, als er die Hypothese aufstellte, dass Softwareunternehmen die bereits etablierten Firmen früher oder später ersetzen werden.

Wir haben mit Mirco Recksiek darüber gesprochen, was DeFi für Banken bedeutet und wie sie mit der disruptiven Entwicklung umgehen können.

Über die Plattform Bitcoin2Go

Mirco Recksiek, Mitgründer von Bitcoin2Go, zu Decentralized Finance
Mirco Recksiek, Mitgründer von Bitcoin2Go

Hallo Mirco, mit zwei weiteren Gründern hast du im Jahr 2020 gemeinsam das Unternehmen Bitcoin2Go aufgebaut. Kannst du uns mehr über Bitcoin2Go erzählen?

Wir sind heute eines der wachstumsstärksten Bildungs- und Newsportale für Krypto-Assets, NFTs und DeFi im deutschsprachigen Raum. Ziel unserer Plattform ist es, Menschen einen einfachen und umfangreichen Zugang zur Kryptowelt zu ermöglichen. 

Eine flächendeckende Bildung ist aus unserer Sicht ein wichtiger Baustein für die nachhaltige Adaption digitaler Assets und Blockchains. Dazu setzen wir auf unterschiedliche Medien – von Ratgebern auf unserer Website über interaktive Rechner bis hin zu unserem YouTube-Kanal, auf dem wir mittlerweile über 45.000 Follower haben.

In Zukunft sind noch Projekte im Bereich NFTs und Tokenisierung geplant, dazu können wir aktuell aber noch nichts berichten.

Anwendungsfälle von Decentralized Finance

DeFi hat gerade in 2021 an medialer Aufmerksamkeit gewonnen. Der Begriff ist vielen Menschen aber noch unbekannt. Welche Anwendungsfälle von DeFi gibt es bereits?

DeFi oder Decentralized Finance steht für dezentralisierte Finanzmärkte oder Finanzdienstleistungen. Die Infrastruktur, auf der die Anwendungen basieren, ist die Blockchain. DeFi hat das Potenzial, einen großen Teil des Leistungsumfangs von Banken abzubilden.

Mittlerweile werden folgende Anwendungsfälle von DeFi genutzt:

  • Krypto-Zinsprodukte als Alternative zu Tages- und Festgeldkonten
  • Kreditvergabe im P2P-Bereich
  • Dezentrale Börsen für Krypto-Assets
  • Derivate und Trading
  • Kosteneffiziente Zahlungsabwicklung

Dabei bietet DeFi im Finanzbereich die gesamte Bandbreite an Vorzügen der Blockchain-Technologie. Sämtliche Transaktionen können global über das Internet abgewickelt werden. Ein Vorteil liegt auch in der Inklusion von Zielgruppen, die vorher vom klassischen Finanzsystem isoliert waren.

Welche Anwendungsfälle sind für Privatkunden spannend?

Davon gibt es einige: Zins- und Lending-Produkte können aus unserer Sicht signifikante Mehrwerte realisieren. Gerade die Kreditvergabe ist im klassischen Bankwesen noch zu abhängig von den Kosten und Margen der Bank. Viel fairer wäre es, Zinsen von Angebot und Nachfrage steuern zu lassen.

Auch der Vergabeprozess kann durch DeFi auf wenige Minuten verkürzt werden. Personal- und Verwaltungsaufwendungen werden durch den Einsatz von intelligenten Verträgen (Smart Contracts) eingespart – das hätte einen positiven Einfluss auf die Profitabilität der Banken.

An dieser Stelle möchten wir jedoch auch auf bestimmte Risiken hinweisen: Kredite sind immer mit der Hinterlegung einer Sicherheit verknüpft. Bei DeFi erfolgt dies häufig in Form einer Kryptowährung. Die hohe Volatilität der Besicherung kann dazu führen, dass die Position droht, bei einer Wertminderung liquidiert zu werden.

Es mangelt aktuell noch an einem regulatorischen Rahmen, der Haftungs- und Verantwortungsangelegenheiten einheitlich klärt. Bis die rechtlichen „Grauzonen“ verschwinden, dürften noch einige Jahre vergehen, auch wenn Deutschland mit dem Gesetzesentwurf zur Einführung elektronischer Wertpapiere erste gute Schritte gemacht hat.

Abgesehen von der Kreditvergabe sind auch dezentrale Marktplätze (Börsen) oder dezentrale Stablecoins interessante Use Cases, die DeFi ermöglichen. Das sind Coins, die Vorteile einer Kryptowährung mit der geringen Volatilität traditioneller Währungen kombinieren.

Wichtig ist, dass Finanzdienstleister an Bildungsinhalten arbeiten oder Kooperationen mit Bildungspartnern eingehen, um ihre Privatkunden bei den teilweise komplexen Themen abzuholen.

Viele Teilnehmende am Kryptomarkt wissen bis heute nicht, wie die Technologie überhaupt funktioniert, und stützen ihre Entscheidungen auf reine Hoffnung, ohne sich der Risiken bewusst zu sein.

Wir sehen ganz klar auch die Produktanbieter in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass ihre Kunden nur solche Produkte nutzen, die zu ihnen passen.

DeFi demokratisiert den Finanzmarkt

Banken haben heute noch mit großen Altlasten in den IT-Systemen zu kämpfen. Ist das der entscheidende Vorteil von DeFi?

Es ist definitiv einer der großen Vorteile. Innovation im Finanzsektor fand bislang eher an der Oberfläche statt. Die hohen regulatorischen Anforderungen sowie die Umstellungskosten führten dazu, dass neue Banking-Apps zwar die User Experience grundlegend verändert haben.

Die Infrastruktur im Hintergrund der Finanzdienstleistungen ist jedoch die gleiche geblieben. Das zeigt sich unter anderem an den hohen Verwaltungskosten bei etablierten Finanzinstituten, deren Gewinnmargen als gut gelten, wenn sie sich im niedrigen zweistelligen Bereich bewegen.

Im Vergleich dazu hat z. B. das Unternehmen MakerDAO im Mai 2021 eine Gewinnmarge von 99 Prozent[1]  verzeichnet.

Decentralized Finance baut das Finanzsystem grundlegend neu auf. Teure IT-Systeme sowie hohe Verwaltungs- und Personalaufwendungen werden durch die Nutzung von Smart Contracts obsolet: Verträge werden in Codes abgebildet und automatisch ausgeführt, ohne manuellen Aufwand dazwischenzuschalten. Selbst komplexe Kreditvergabeprozesse können auf diese Weise abgebildet werden, ohne dass eine dritte Partei die Prozesse steuert.

Für Kunden werden Finanzdienstleistungen deutlich erschwinglicher. Sie müssen keine Provisionen, Verwaltungsgebühren oder andere versteckte Kosten zahlen. DeFi ist nicht kostenlos, aber weitaus günstiger.

Nicht zu vergessen: Obwohl wir im 21. Jahrhundert bereits viel Innovation erlebt haben, sind nicht alle Menschen gleichermaßen daran beteiligt. Gerade in Entwicklungsländern haben viele Menschen noch keinen Zugang zum Finanzsystem. Der Weg zur nächsten Bank dauert häufig mehrere Stunden, und existenzielle Kredite stehen nur einer geringen Anzahl von Menschen zur Verfügung. DeFi löst das Dilemma und demokratisiert den Finanzmarkt.

Wie genau sollten Banken mit dem DeFi-Markt umgehen? Eine komplette Umstrukturierung der Systeme ist unwahrscheinlich.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich Innovation meistens durchsetzt. Unsere Bedürfnisse ändern sich fast täglich. Früher haben wir noch in der Buchhandlung Bücher gekauft, heute erledigt das ein Großteil der deutschen Bürgerinnen und Bürger über Amazon. CDs, Schallplatten und DVDs wurden von Spotify und Netflix ersetzt.

Die Finanzwelt ist von dieser Entwicklung nicht isoliert. Auch hier müssen sich Finanzdienstleister die Frage stellen, ob sie mit dem Trend gehen möchten. Aus unserer Sicht wäre es naiv zu denken, dass DeFi keine Zukunft hat.

DeFi wird den Bankensektor innerhalb der nächsten Jahre nicht substituieren. Banken können ihre Wertschöpfung jedoch durch Nutzung von DeFi-Protokollen oder Schnittstellen zu DeFi-Anwendungen erhöhen und Kunden binden.

Erste europäische Banken haben bereits DeFi-Projekte lanciert. Den Anfang macht z. B. die ING Group, die an einem P2P-Kreditvergabeprojekt arbeitet. Ziel soll sein, dass Smart Contracts die Kredite koordinieren. Zudem arbeitet die ING Group an einem Angebot für die Kryptoverwahrung.

Wir plädieren dafür, dass sich traditionelle Finanzdienstleister am ING-Modell orientieren. Niemand muss das Rad neu erfinden. Kooperationen sind ein interessanter Hebel – auch für DeFi-Unternehmen, die über Partnerschaften den Zugang zu einer breiten Kundenmasse erhalten.

Wohin entwickelt sich Decentralized Finance?

Welche Entwicklung erwartest du für 2022 im DeFi-Markt?

Fakt ist, dass sich der Gesamtmarkt der Kryptowährungen als Assetklasse etabliert hat und damit auch den klassischen makroökonomischen Faktoren unterliegt. Aktuelle Unsicherheiten am Markt bedingt durch Inflation, die große Frage der Zinswende sowie geopolitische Spannungen beeinflussen den Krypto- und somit auch den DeFi-Markt.

Legt man jedoch eine isolierte Betrachtungsweise auf den Markt dezentraler Finanzen zugrunde, lässt sich ein klares Bild erkennen: 2022 ist ein Jahr der Entwicklung und Umsetzung. Neben der führenden Plattform für dezentrale Finanzen, Ethereum, gibt es immer mehr dezentrale Ökosysteme rund um Cardano, Polkadot oder Solana, die eine wachsende Anzahl an Applikationen und Projekten verzeichnen.

Aus dieser Perspektive des Wachstums und Wettbewerbs heraus sehe ich persönlich also insbesondere Chancen bei den Projekten, die es schaffen, dezentrale Anwendungen im Finanzbereich skalierbar und kostengünstig anzubieten. Mit diesem Schritt entsteht nämlich die notwendige Brücke zur Adaption.

Viele Dank für das informative Gespräch Mirco!

[1] MakerDAO (2021): Financial Presentation

Was meinen Sie, hat DeFi das Potenzial, die Finanzwelt nachhaltig zu verändern?

Sprechen Sie uns gerne an!

Julia Schraut / Redakteurin und Autorin BankingHub

Julia Schraut

Expert Office Berlin
Dr. Madita Amelie Pesch / Autorin BankingHub

Dr. Madita Amelie Pesch

Senior Consultant Office Münster

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