Grundlagen der Eignungsdiagnostik

In Theorie und Praxis hat die Eignungsdiagnostik im deutschsprachigen Raum heute ein erstklassiges Niveau. Der einstige Rückstand auf die anglo-amerikanischen und skandinavischen Staaten ist längst Historie. Durch die Beteiligung an internationalen Validierungsstudien und Metaanalysen ist in den meisten Branchen wohlbekannt, welche Verfahren die höchste eignungsdiagnostische Qualität („prognostische Validität“) haben und wie durch die Kombination von Verfahren Qualitätsgewinne („inkrementelle Validität“) erzeugt werden können. Dabei liegt die prognostische Validität, die als Korrelationswert erfasst wird, maximal bei 1,0. Dieser Wert ist aus statistischen Gründen nicht zu erreichen, weshalb eine sehr gute prognostische Validität bei 0,7 liegt. Dieses Wissen gehört inzwischen zum Grundbestand evidenzbasierter Personalarbeit.
Abbildung 1: Validität einzelner Verfahren

Durch konzeptionelle Leistungen, die auch international Beachtung finden, hat sich darüber hinaus ein Goldstandard der Eignungsdiagnostik entwickelt: Sogenannte multimodale Verfahren setzen auf eine Kombination von Instrumenten, die a) biografische Hinweise auf Eignung erheben, b) eignungsrelevante stabile Persönlichkeitsmerkmale erfassen und c) konkretes Verhalten in vorgegebenen Situationen oder Simulationen beschreibbar machen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die weit verbreitete Assessment-Center-Methodik über die Jahre hinweg an prognostischer Validität verloren hat und insofern auch wirtschaftlich nicht mehr zu rechtfertigen ist, haben sich multimodale, aber kompakte Verfahren wie das Multimodale Interview (MMI) etabliert und bewährt.

Abbildung 2: Multimodaler Ansatz

Überdies existiert ein recht breites, aber noch nicht unübersichtliches Angebot an seriös und sorgfältig konzipierten „Testverfahren“ zur Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen (sogenannte Persönlichkeitsinventare), die gut mit strukturierten oder multimodalen Interviews zur Bewerberauswahl kombiniert werden können. Da nahezu alle Inventare für sich genommen keine höhere prognostische Validität als 0.3 haben, empfiehlt sich die Kombination mit anderen fundierten Verfahren zur Personalauswahl. Zu den bewährten Inventaren zählen beispielsweise das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP), das Hamburger Führungsmotivationsinventar (FÜMO) oder das Leistungsmotivationsinventar (LMI, siehe Punkt 3).

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Eine evidenzbasierte Eignungsdiagnostik ist kein Selbstzweck. In Zeiten der demografischen Transformation und der damit einhergehenden Minderung des Erwerbspersonenpotenzials, der Niveauabsenkung an Schulen und Hochschulen und den (regional sehr unterschiedlichen) strukturellen Angebotsschwächen am externen Arbeitsmarkt haben Fehlbesetzungen weitaus gravierendere Folgen als es noch vor 10 oder 15 Jahren der Fall war. Fehlbesetzungen sind immer schwerer zu korrigieren; sie führen zu Produktivitätsverlusten und langwierigen, aber meist erfolglosen Reparaturtätigkeiten (Coaching usw.). In einer solchen Gemengelage ist die evidenzbasierte Eignungsdiagnostik einerseits Goldstandard für das Verfahren, andererseits eine recht weitreichende Gewähr für die Richtigkeit von Personalentscheidungen.

Solide konstruierte Verfahren genießen aller Erfahrung nach eine hohe Akzeptanz bei allen Beteiligten. Führungskräfte, Mitarbeitervertreter und Bewerber fühlen sich mit entsprechend modellierten und transparenten Verfahren in aller Regel weitaus wohler als mit Techniken, die auf irgendwelchen unerklärlichen Effekten beruhen. Die Akzeptanz oder auch „soziale Validität“ ist ein wichtiges Erfolgskriterium für die Einführung und Nutzung von eignungsdiagnostischen Verfahren.

All das sind wesentliche Daten für die Personalauswahl in Banken und Sparkassen. Zwar machen Kostendruck und Digitalisierung einen erheblichen Personalabbau erforderlich, zugleich wird es künftig aber auch – und unter Gesichtspunkten der Kompetenzverdichtung einmal mehr – darum gehen, Firmenkundenbetreuer, Experten für die Gesamtbanksteuerung sowie das Risikocontrolling und Spezialisten für das Asset Management und den digitalen Vertrieb mit treffsicheren, betriebswirtschaftlich sowie arbeitsrechtlich vertretbaren Methoden auszuwählen. Das gilt gleichermaßen für interne wie externe Rekrutierungswege. Das Instrumentarium dafür ist vorhanden: Zeitgemäße Eignungsdiagnostik agiert evidenzbasiert und multimodal und nutzt ein empirisch fundiertes, reichhaltiges Methodenrepertoire.

Betrachtet man indes die Realität in Kreditinstituten aller Größenklassen, tritt mindestens Ernüchterung ein: Zahlreiche Institute setzen keinerlei strukturierte Eignungsdiagnostik ein, sondern setzen auf unstrukturierte Interviews. Großbanken und mittelständische Häuser nutzen selbst konzipierte Assessment-Center, die zwar aufwendig, aber nicht multimodal sind und sich in kontinuierlich wiederholenden Simulationen erschöpfen. Bundesweit werden in Banken und Sparkassen überdies typologische Testverfahren zur Personalauswahl eingesetzt, obwohl diese auf antiquierten Theoriefragmenten beruhen, ein fragwürdiges Menschenbild kommunizieren und in zahlreichen Studien und Rezensionen als invalide und untauglich beschrieben worden sind.

Abbildung 3: Untaugliche Persönlichkeitsinventare

Es gibt zahlreiche, empirisch gestützte Erklärungsansätze für den Einsatz untauglicher oder gar unseriöser Methoden, z. B. mangelnde eignungsdiagnostische Kompetenzen im Personalressort, die gezielt genutzte (eignungsdiagnostisch aber irrelevante) Anscheinsplausibilität einzelner Verfahren und die unstrukturierte Auswahl externer Angebote und Dienstleister. Digitalisierung, steigende fachliche Anforderungen, Komplexitätszunahme in der Kreditwirtschaft oder aber die demografische Minderung des Erwerbspersonenpotenzials lassen eine unprofessionelle, ungesteuerte Personalauswahl aber immer weniger zu. Oberflächliche Eignungsdiagnostik wird zusehends zum personal- und betriebswirtschaftlichen Risikofaktor.

Derlei Risiken lassen sich leicht vermeiden. Allein die Strukturierung des eignungsdiagnostischen Prozesses und der einzelnen Instrumente führt zu einer Steigerung der prognostischen Validität. Empirisch bewährt hat sich das nachfolgend beschriebene Vorgehen:

1   Anforderungsprofil

Aus zahlreichen Studien und Metaanalysen wissen wir, dass die akkurate Ableitung oder Erstellung eines Anforderungsprofils (für die zu besetzende Stellen) erfolgskritisch für die Qualität des gesamten eignungsdiagnostischen Prozesses ist. Hier hat sich in Theorie und Praxis inzwischen ein reichhaltiges Instrumentarium entwickelt, das zugrunde gelegt werden sollte. Bewährt hat sich die sogenannte Key-Task-Methode. Dabei werden aus den Hauptaufgaben einer Funktion die fachlichen und nicht fachlichen Anforderungen an diese Funktion und den künftigen Stelleninhaber abgeleitet. Die einzelnen Anforderungen sind zu beschreiben und mit (metrischen) Soll-Anforderungen zu versehen. Das Ergebnis ist ein – oftmals grafisch modelliertes – Anforderungsprofil.

Abbildung 4: Anforderungsprofil

2   Konzeption des eignungsdiagnostischen Instrumentariums

Das Anforderungsprofil bildet die unabdingbare Grundlage für das weitere eignungsdiagnostische Verfahren. Dieses ist lege artis zu konzipieren. Maßgeblich sind die bereits erwähnten Aspekte der Validität und Multimodalität. Für die konkrete Gestaltung des Verfahrens stehen zahlreiche Instrumente und Methoden zur Wahl. Mit Blick auf den heutigen Stand der Forschung, die vielfach dokumentierten Validitätswerte für einzelne Verfahren, das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag im Falle der Assessment-Center-Technik und praktische Erfahrungen empfiehlt sich für zahlreiche Anwendungsfälle das multimodale Interview. Dabei handelt es sich um ein strukturiertes Interview, das alle drei Aspekte der Eignung (s. o.) erfasst und beschreibt. Prozessual geht es in der zweiten Phase also vor allem um die Konzeption eines Leitfadens, die Ableitung von Frage- und Beobachtungskriterien aus dem Anforderungsprofil sowie die Festlegung einer Bewertungsskala. Bewährt haben sich sechs- oder neunstufige Skalen mit kurzen verbalen Beschreibungen der einzelnen Werte.

Abbildung 5: Interviewleitfaden

3   Auswahl eines Persönlichkeitsinventars (optional)

Ergänzend kann ein Persönlichkeitsinventar eingesetzt werden, dass von den Bewerbern flankierend absolviert wird. Prinzipiell geschieht das webbasiert. Bei der Auswahl ist darauf zu achten, dass die einzelnen Instrumente theoretisch wohl fundiert und vollständig dokumentiert sind und dass unabhängige Daten und Ergebnisse zur Zuverlässigkeit und Validität der Instrumente vorliegen. Das Testbeurteilungssystem des Diagnostik- und Testkuratoriums hat die relevanten Qualitätsstandards definiert und zahlreiche Testrezensionen veröffentlicht. Bewährt haben sich u. a. die folgenden Inventare:

  • 16-Persönlichkeits-Faktoren-Test (16 PF)
  • Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP)
  • Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung – 6 Faktoren (BIP-6F)
  • Hamburger Führungsmotivationsinventar (FÜMO)
  • Inventar Berufsbezogener Einstellungen und Selbsteinschätzungen (IBES)
  • Leistungs-Motivations-Inventar (LMI)
  • NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI)
  • NEO Persönlichkeits-Inventar (NEO-PI)
Abbildung 6: Persönlichkeitsinventar

4   Durchführung

Für die Durchführung eignungsdiagnostischer Verfahren sind eignungsdiagnostisch nachweisbar qualifizierte Assessoren zu nutzen. So sieht es auch die DIN-Norm 33430 „Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik“ vor. Die weit verbreitete Praxis, Führungskräfte in den eignungsdiagnostischen Prozess einzubeziehen, ist unter Akzeptanzgesichtspunkten sicher zu begrüßen. Bereits seit den 1990er-Jahren wissen wir aber aus empirischen Studien, dass Führungskräfte auch nach erfolgter Beobachterschulung i. d. R. nur generische, übergreifende Urteile zu einzelnen Bewerbern abgeben können und sich dabei oft vom Anforderungsprofil lösen. Der Einsatz qualifizierter Eignungsdiagnostiker ist also unabdingbar – auch um Gleichartigkeit bzw. Vergleichbarkeit der einzelnen Schritte und Ergebnisse zu gewährleisten.

5   Gutachten

Im Anschluss an die Durchführung des eignungsdiagnostischen Verfahrens ist vom Assessor ein differenziertes Gutachten zu erstellen. „Differenziert“ heißt, dass auf alle Anforderungs- bzw. Bewertungskriterien eingegangen, ein Stärken-Schwächen-Profil erstellt und eine dezidierte Eignungsaussage formuliert wird. Zwar existieren Lehrbücher zur psychologisch-diagnostischen Begutachtung, aber es existieren i. e. S. keine Formvorschriften für das Gutachten. Gleichwohl ist das Gutachten wertschätzend zu formulieren. Vor Abgabe einer finalen Fassung sollte das Gutachten daraufhin überprüft werden, ob es missverständliche Aussagen enthält und in seiner Diktion mit internen Gegebenheiten vereinbar ist (Sprachgebrauch, Organisationskultur usw.). Dabei geht es nicht um inhaltliche Glättung, sondern darum, auch sprachlich die besonders schutzwürdigen Interessen der Kandidaten zu beachten.

Abbildung 7: Gutachten

Neben ethischen Fragen treten rechtliche Aspekte. Die Ausschreibung von Arbeitsplätzen, Personalfragebogen, Beurteilungsgrundsätze und Auswahlrichtlinien unterliegen gem. §§ 93–95 BetrVG der Mitbestimmung der Mitarbeitervertretung. Für die öffentlich-rechtlichen Institute gelten analoge Regelungen der jeweiligen Personalvertretungsgesetze. Der Einsatz von Persönlichkeitsinventaren greift in die Persönlichkeitsrechte der Bewerber ein. Daher sind vor deren Einsatz entsprechende Einwilligungen einzuholen. Da interne und externe Bewerbungsprozesse stets einen umfangreichen Datenaustausch (Bewerbungsunterlagen, Fragebogen, Daten aus Persönlichkeitsinventar usw.) beinhalten, greifen überdies die Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes. Formaljuristischen Erwägungen sollte aber stets der vertrauensvolle Austausch mit dem Betriebs- oder Personalrat vorausgehen. Einen hilfreichen Leitfaden dafür liefert implizit die bereits genannte DIN-Norm 33430.

Auf der Grundlage dieser Gestaltungsprinzipien und Prozessphasen lässt sich ein Instrumentarium zur Personalauswahl konzipieren, das

  • dem heutigen Stand eignungsdiagnostischer Forschung entspricht und eine (inkrementelle) prognostische Validität von 0.5 und höher hat,
  • der DIN Norm 33430 „Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik“ entspricht,
  • diskriminierungsfrei und rechtssicher ist,
  • im Vergleich zu aufwendigeren, aber weniger validen Verfahren (z. B. Assessment-Center) deutlich kompakter, wirtschaftlicher und effizienter ist und
  • bei den Bewerbern eine hohe Akzeptanz (keine Verliererproblematik) genießt.

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Kommentare

2 Antworten auf “Grundlagen der Eignungsdiagnostik

  • Jürgen Huck

    Herr Dr. Lau,
    Chapeau!

    Gut beschrieben, fundiert, sachlich, inspirierend. Die psychologische Forschung hat in Kombination mit anwendungsorientierter (Auswahl-/Förder)-Diagnostik einiges zu bieten. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass aufgrund dieses Artikels so mancher sich besinnt, esoterisches und anderes psychologisch unbauchbares Handwerkszeug auszumisten und sich eines Besseren zu besinnen.

    Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, die Fakten anschaulich darzustellen.

    Viele Grüße von
    Jürgen Huck
    Dipl.-Pych. (Univ.)

    Antworten

  • Viktor Lau

    Sehr geehrter Herr Huck,

    frisch aus dem Urlaub zurück finde ich Ihre freundliche und wertschätzende Kommentierung meines Artikels. Herzlichen Dank dafür!

    Die seriöse eignungsdiagnostische Theorie und Praxis bietet m.E. heute ein solides Fundament, auf dem man guten Gewissens aufsetzen kann. Insofern dürften esoterische und unseriöse Angebote eigentlich keinen Anklang mehr finden.

    Meine Beobachtungen lassen aber eher das Gegenteil befürchten. Alle möglichen kruden Konzepte schießen da lustig ins Kraut – von der Physiognomik über Sprachaufzeichnungen bis hin zum neuesten Trend: der Gamification von Personaldiagnostik.

    Insofern ist noch ein gewisser Weg zu gehen. Ihr Feedback freut mich daher umso mehr.

    Mit besten Grüßen

    Ihr

    Viktor Lau

    Antworten

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