Design vor Ästhetik: Customer Experience im Fokus

Wir haben mit Thomas Elm über die Rolle von Design in der Finanzindustrie gesprochen – unter anderem über Customer Experience, das Verhältnis von Produkt und Design, Digitalisierung sowie strategische Implikationen für die Zukunft der Finanzindustrie.

Versteht ein Mathematiker, der Manager bei Finanzunternehmen wie der Deutschen Börse war, etwas von Design? „Sehr genau sogar“, ist sich Boris Jitsukata, noch Deutschlandchef der japanischen Designberatung Goodpatch, sicher. Das börsennotierte Unternehmen berief den studierten Mathematiker Thomas Elm als neuen Deutschlandchef. Nicht „obwohl, sondern weil er aus der Finanzindustrie kommt“, betont Jitsukata, der für Goodpatch künftig nach Japan zurückkehrt.

Denn Elm hat als Manager die Umgestaltung der klassischen Finanzindustrie hin zu einer schnellen und digital agierenden Branche hautnah miterlebt und die neuen Helden des Sektors genau beobachtet. Er stellt fest, dass Design im Grunde die einzige Chance ist, um Dienstleistungen und Produkte zu kreieren, die wirklich die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer erfüllen.

„Mit Design“, so die Überzeugung von Elm, „reagieren Unternehmen nicht nur angemessen auf Trends, sie gehen vielmehr voran und setzen sich an die Spitze“. Ein Spirit, mit dem Elm auch den Wandel anderer Branchen unterstützen will.

Herrn Elms Weg zur Designberatung

Herr Elm, Sie waren viele Jahre als Manager bei Finanzunternehmen aktiv. Was führt Sie neuerdings zu einer Designberatung?

Ich werde zurzeit öfter gefragt, wie ich einen solchen Sprung wagen kann. Dabei merke ich, dass meine Zeit in London wohl einen erheblichen Einfluss darauf gehabt haben muss, wie ich berufliche Laufbahnen sehe. In London war es ganz normal für mich, mit ehemaligen Chirurgen, Chemikerinnen oder Lehrern zu arbeiten. Das Wissen für den Job eignet man sich relativ schnell an, die unterschiedlichen Erfahrungen jedoch sind sehr wertvoll bei komplexen Fragestellungen – man profitiert sehr davon. Boris und ich teilen diese Überzeugung.

Das Wichtigste ist, dass die persönliche Einstellung übereinstimmt. Vor meinem Einstieg kannte ich Goodpatch schon lange, denn 2018 war ich während meiner Zeit bei der Deutschen Börse selbst Kunde bei Goodpatch. Gemeinsam haben wir ein neues Handelsmodell (jetzt unter dem Name „EnLight“ bekannt) aufgebaut, das bereits mehrere Innovationspreise gewinnen konnte. Das Projekt hat mir die Augen geöffnet und gezeigt, dass Design mehr als Ästhetik ist. Goodpatch verfügt über eine sehr effektive Methode, komplexe Probleme systematisch zu durchdenken, den Nutzer in den Mittelpunkt zu stellen und die Lösung immer wieder zu testen und zu verbessern.

Heute ist die Welt komplexer denn je. Wir brauchen immer mehr Software, um uns in dieser Komplexität zurechtzufinden. Deshalb ist es nicht nur „nice to have“, darüber nachzudenken, wie die Menschen mit Applikationen interagieren. Meiner Meinung nach ist es der richtige Ansatz, die Nutzerin ins Zentrum zu stellen, um die Probleme von morgen zu lösen – und diese Überzeugung ist genau der Grund, warum ich heute hier bin.

Customer Experience in der Finanzindustrie

Die Customer Experience in der Finanzindustrie ist im Vergleich zu anderen Branchen häufig noch recht „steril“. Was glauben Sie, woran das liegt?

Das ist richtig, und es erscheint fast ein wenig verrückt, wenn man bedenkt, dass die Finanzbranche einmal Vorreiter in Sachen Digitalisierung war. Die Kreditkarte wurde in den 1960er-Jahren eingeführt. Der digitale Handel an der Nasdaq war bereits in den 1970er-Jahren möglich. Wie kommt es also, dass eine Branche, die einen solchen Vorsprung hatte, jetzt bei der Customer Experience so weit zurückliegt?

Ich denke, zwei Dinge sind hier entscheidend:

  • Erstens gibt es in der Finanzbranche ein ausgeprägtes Risikobewusstsein. Fehler kosten in der Regel viel Geld, und deshalb liegt es nahe, eher auf Nummer sicher zu gehen und bei dem zu bleiben, was bekannt ist. Dies führte dazu, dass viele Benutzeroberflächen der Bankensysteme jahrzehntelang im Wesentlichen unverändert blieben (ein Beispiel sind die Bloomberg Terminals).
  • Zweitens glaube ich, dass der Standard für eine „gute Customer Experience“ drastisch gestiegen ist. Alle, die mit Bankdienstleistungen zu tun haben, sind wahrscheinlich auch Kunden anderer Dienstleistungen oder Produkte wie Netflix, Amazon oder Google. Dies setzt einen Maßstab für das, was möglich ist, und verschiebt somit die Erwartungen der Kunden. Was vor zehn Jahren gut war, ist heute höchstwahrscheinlich nicht mehr gut genug.

Die positive Nachricht ist, dass die Banken schnell aufholen. Ich schätze Initiativen wie ING Labs, wo Projekte wie Invisible Ticket, CoorpID oder Yolt ihren Ursprung haben. Natürlich erfordert es Mut zum Experimentieren, denn nicht jede Idee wird erfolgreich sein. Dennoch zeigt es, dass Banken etwas bewirken können – auch über die traditionellen Angebote hinaus –, wenn sie ganzheitlich an die Nutzerinnen und Nutzer denken.

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Trennung zwischen Produkt und Verpackung

Wo verläuft die Trennung zwischen Produkt und Verpackung? Gibt es sie heutzutage überhaupt noch?

Ich denke, es gibt einen Unterschied. In einer digitalen Welt können wir beide Aspekte jedoch nicht getrennt voneinander betrachten, sondern müssen sie nacheinander angehen. Zuerst muss sichergestellt sein, dass das, was man anbietet, ein Problem der Nutzerin löst. Wir nennen dies den „Problem-Lösungs-Fit“, und es ist das Erste, was wir bei jedem Projekt überprüfen. Die Lösung definiert, WAS angeboten wird. Das Produkt ist der Wert, den wir dem Benutzer liefern.

Erst wenn das WAS gelöst ist, können wir darüber nachdenken, WIE wir es anbieten möchte – die Verpackung also. Hier ist die Customer Experience ganz zentral, und sie beginnt mit der ersten Sekunde, in der das Produkt benutzt wird. Für einen ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance, also sollte jede Interaktion mit dem Benutzer zählen. Aus diesem Grund muss man die Customer Journey sorgfältig durchdenken und sie so reibungslos wie möglich aufbauen. Die Gestaltung einer guten Customer Experience hilft den Nutzerinnen und Nutzern, den Wert des Produkts zu erkennen und schätzen zu lernen.

Welche Rolle spielen Digitalisierung und neue mobile Endgeräte bei dieser Entwicklung?

Ich glaube, die Banken konkurrieren mittlerweile nicht mehr nur mit anderen Banken. Sie konkurrieren mit allen verfügbaren Apps auf dem Smartphone. Für jedes Problem gibt es normalerweise auch „eine App“. Es geht also darum, sowohl ein Problem zu lösen (das WAS) als auch ein besseres Erlebnis (das WIE) zu bieten. Deswegen ist es für Banken eine gute Übung, sich von anderen Branchen inspirieren zu lassen.

Getir, ein neuer Lebensmittellieferdienst, hat Lieferzeiten von zwei Tagen auf zehn Minuten gesenkt – wie würde ein entsprechendes Angebot im Finanzsektor aussehen? Spotify sieht die Zukunft in Podcasts – wie könnte die Finanzbranche das nutzen?

Wenn überhaupt, dann hoffe ich, dass die digitale Transformation uns zeigt, was möglich ist, um interne Hürden zu überwinden. Die Banken werden zunehmend mit Kunden in Kontakt kommen, die ihre Informationen online finden und genauere Vorstellungen davon haben, wie digitale Dienstleistungen aussehen müssen. Wie wir bei Goodpatch fragen: Wie kann man diesen Kunden „lovable“ Produkte anbieten?

Was bedeutet das für die strategische Bedeutung von Design?

Ich denke, die Botschaft ist mittlerweile laut und deutlich angekommen: Design ist wichtig. Wir erleben diesen Wandel persönlich durch die Art der Projekte, die wir haben. Während wir früher oft zur Einführung einer neuen Dienstleistung oder eines neuen Produkts hinzugezogen wurden, sind einige unserer Aufträge heute viel strategischer geworden. Viele Unternehmen bauen jetzt ihr internes UX-Team auf, und wir werden häufig gebeten, sie bei der Entwicklung der Fähigkeiten ihres Teams zu unterstützen.

Die Frage ist nicht mehr, ob man in Design investieren soll, sondern wie man Design am besten einsetzt. Wir helfen dabei, die internen Prozesse und Formate zu etablieren, damit die internen UX-Teams die Geschäftsstrategie wirklich mitgestalten und nicht nur „am Ende etwas hübsch machen“. Design wird allmählich zu einer sehr effektiven Methode, mit der die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigt werden können.

Wird Banking in Zukunft eine App?

Besonders Challenger- und Neobanken setzen stark auf diesen Kanal. Wird Banking in Zukunft eine App?

Ich denke, dass die Challenger- und Neobanken wirklich stark sind, wenn es darum geht, einen bestimmten Anwendungsfall aufzugreifen und eine tolle, optimierte Customer Experience zu schaffen. N26 begann mit Bankkonten. Scalable Capital bietet Handel an. Coinbase bietet Krypto. Diese Anwendungsfälle sind in der Regel der Weg des geringsten Widerstands, da es wenig Auswahl gibt und sie somit leichter standardisiert werden können.

Aber was ist mit sehr individuellen Angeboten wie Hypotheken oder persönlichen Anlagestrategien? Oft weiß der Kunde noch gar nicht, was möglich ist. Hier hilft das Gespräch mit Beraterinnen und Beratern, und es wird schwer werden, diesen Austausch nur per Apps zu lösen.

Ich denke, die Zukunft des Bankwesens ist hybrid. Das „Tagesgeschäft“ kann ich selbst am Telefon erledigen, bin aber froh, mit jemandem über meine individuellen Bedürfnisse zu sprechen.

Zukünftige Erfolgsfaktoren

Was bedeutet diese Entwicklung für traditionelle, stark filialorientierte Finanzdienstleister? Welche Erfolgsfaktoren werden in Zukunft besonders relevant?

Ich glaube, dass die Zukunft des Finanzwesens eine große Chance für lokale Bankfilialen darstellt. Es wird allerdings ein gewisses Umdenken erforderlich sein. Die Neobanken haben gute Arbeit geleistet, um neue Gruppen für Finanzen zu interessieren – vor allem die Zwanzigjährigen, die allmählich über ein gewisses Einkommen verfügen. Und während es leicht geworden ist, „loszulegen“ und „einfach auszuprobieren“, ist es immer noch schwierig, eine langfristige Finanzstrategie zu entwickeln – vor allem ohne finanziellen Hintergrund.

Es besteht ein enormer Bedarf an Finanzwissen, und es bilden sich verschiedene Gruppen rund um dieses Thema. Denken Sie nur an die FIRE-Bewegung (Financial Independence, Retire Early), an Konferenzen über ETFs und an das aktuelle Interesse an Kryptowährungen. Diese Interessengruppen sind tief im zwischenmenschlichen Austausch verwurzelt. Wie wäre es also, wenn lokale Banken Veranstaltungen mit Influencerinnen und Influencern aus der Finanzwelt ausrichten und die Menschen über intelligentes Investieren informieren würden? Was wäre, wenn Banken den Anlegerinnen und Anlegern die positiven Auswirkungen nachhaltiger Strategien aufzeigen könnten?

Lokale Banken können relevant bleiben, aber es ist wichtig, über einen Geldautomaten und einige Finanzberaterinnen und -berater hinauszudenken. Lokale Banken werden Erfolg haben, wenn sie die Interessengruppen in ihrer Umgebung einbeziehen. Letztlich geht es darum, Vertrauen zu gewinnen. Und Vertrauen erwirbt man primär durch direkte Gespräche und Zeit.

Herzlichen Dank für das Interview!

Goodpatch ist eine globale Designfirma mit Studios in Berlin, Tokio und München:

Sprechen Sie uns gerne an!

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