Recruiting X.0 – Paradigmenwechsel in der Personalpolitik

Die Anzahl der Beschäftigten im deutschen Bankensektor ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Waren 2002 noch eine dreiviertel Million Menschen in der Kreditwirtschaft beschäftigt, so sind es 2016 noch gut 600.000 gewesen. Diese Zahlen und die Konstanz der Abnahme zeigen, dass der Prozess bislang viel weniger dramatisch verläuft, als es die Berichterstattung bisweilen vermuten lässt.

Abnahme der Leistungsfähigkeit zahlreicher Institute

Freilich, Digitalisierung, Kosten- und Ertragsdruck, Niedrigzinspolitik usw. – all diese Faktoren bringen Dynamik in den Bankenmarkt und die Personalpolitik der Institute. Aber, so könnte man behaupten, irgendetwas ist immer, und bei Lichte besehen folgt die Beschäftigungsstruktur im Kreditgewerbe eher einer langfristigen Logik.

Grafische Darstellung der Beschäftigten im KreditgewerbeAbbildung 1: Beschäftigte im Kreditgewerbe

Solche Prozesse bergen stets ein besonderes Risiko in sich. Es ist die alte Geschichte vom Frosch auf der heißen Herdplatte. Kontinuierliche Prozesse werden erst dann lebensgefährlich, wenn der Sprung von der heißen Herdplatte nicht mehr möglich ist. Alle Projektionen des zeb zeigen, dass die konstante Reduktion der Bankbeschäftigten Anfang des kommenden Jahrzehnts zu einer personellen Unterdeckung führen wird und dass diese sich aufgrund der demografischen Situation nicht mehr umstandslos kompensieren lassen wird. Die Altersstruktur in vielen Instituten lässt schon heute einen eklatanten Mangel an internen Nachwuchskandidaten erkennen. Unter regulatorischen Gesichtspunkten ist das problematisch. Weitaus gravierender ist aber die damit annoncierte Abnahme der Leistungsfähigkeit zahlreicher Institute.

Auch wenn es angesichts der aktuellen Konsolidierungsbewegungen ein wenig paradox klingen mag, müssen sich die Kreditinstitute spätestens jetzt mit der externen Rekrutierung von Nachwuchskräften, Young Professionals, künftigen Firmenkundenberatern, Risikocontrollern usw. beschäftigen. Dabei geht es vor allem darum, die Bedingungen für eine erfolgreiche Teilnahme am Personalmarkt zu schaffen. Das ist ein anspruchsvolles Unterfangen – aus zwei Gründen.

Nobelpreis für Recruiting X.0?

Erstens ist der Arbeitsmarkt ein Markt mit sehr spezifischen Eigenheiten, denn dass freie Stellen und Arbeitssuchende gleichzeitig am Markt auftreten, widerspricht den Standards der klassischen ökonomischen Theorie. Dort herrscht ein ideales Informationsgleichgewicht, das eine rasche Besetzung vakanter Stellen gestattet – weitgehend frei von Transaktionskosten. Die Realität sieht anders aus. Der Arbeitsmarkt ist ein Markt, auf dem „Käufer“ und „Verkäufer“ oft genug nicht zueinander finden. Das Problem ist auch theoretisch so anspruchsvoll, dass die Lösungsansätze von Peter A. Diamond, Dale Mortensen und Christopher Pissarides 2010 mit dem Ökonomie-Nobelpreis bedacht wurden. Ganz praktisch glaubte man in den letzten 10–15 Jahren diese Probleme durch Portale, Social Media usw. lösen zu können.

Das führt zweitens zu diversen Paradigmenwechsel in der Personalbeschaffung. Im Zuge der ersten großen Digitalisierung entstanden zahlreiche elektronische Jobportale, die die Informationsasymmetrie ausgleichen und Arbeitssuchende und Arbeitgeber zueinander führen sollten. Das ging eine ganze Weile gut, bis sich die Prognose von Peter Kruse bewahrheitete, das nächste große Problem des Internets und der Informationsgesellschaft werde die Relevanz sein – bzw. die Irrelevanz.

Wer heute elektronische Jobbörsen konsultiert, der erlebt Ähnliches wie bei der elektronischen Suche nach einer neuen Mietwohnung – man findet nur noch Dachgeschosswohnungen in schlechter Lage. Der Markt hat sich stark diversifiziert; obendrein fluten viele in den Portalen aktive Anbieter diese mit überschießenden, exzessiven und insofern auch falschen Daten. Das betrifft beispielsweise die Verschlagwortung von Berufsbezeichnungen („Tagging“). Wer heute gezielt nach Geschäftsführungsfunktionen im Kreditgewerbe sucht, der läuft Gefahr, auf Assistenzfunktionen im Pflegedienst zu stoßen. Das Problem der Relevanz! Die immer noch recht weit verbreitete Nutzung der am Markt verbliebenen Portale ist vor allem auf den komplikationslosen Zugang zurückzuführen.

Auch die seinerzeit mit viel Euphorie begrüßten Möglichkeiten von Social Media sind im Kontext der Personalbeschaffung nur zum Teil Realität geworden. Viele mit entsprechenden Aufträgen betraute Onlineredaktionen haben ihren Dienst längst wieder eingestellt oder deutlich reduziert. Vielerorts musste man einsehen, dass man einen Facebook-Account nicht ungestraft betreiben kann und dass der virtuelle (Arbeits-)Markt auch ein Markt der unerträglichen Eitelkeiten ist. Hinzu treten datenschutzrechtliche Komplikationen. Die empirischen Daten sprechen eine deutliche Sprache: Die Nutzung von Social Media spielt im deutschen Bankensektor eine verschwindend geringe Rolle bei der externen Personalbeschaffung.

Grafische Darstellung der Häufigkeit der Maßnahmen in der Rekrutierung und im Employer BrandingAbbildung 2: Häufigkeit der Maßnahmen in der Rekrutierung und im Employer Branding

Ein Trend indes ist offensichtlich: Für die externe Rekrutierung von Fach- und Führungskräften in der Kreditwirtschaft werden Homepage und Karriereseiten immer wichtiger; sie gewinnen erfolgskritische Bedeutung bei der Beschaffung von Personal am externen Arbeitsmarkt.

Recruiting X.0 – praktisch gedacht

Diese Entwicklung wäre vor wenigen Jahren noch nicht zu erwarten gewesen, dafür war die Social-Media-Euphorie zu ausgeprägt. Und genau das spiegelt sich auf den Karriereseiten vieler Institute wieder: Nach minutenlanger Suche und mehrfachem Mausklicken landet man bei den „Freien Stellen“, nur um dort zu erfahren, dass aktuell keine Stelle zu besetzen sei. Es mutet fast schon ironisch an: Das Problem von Märkten, auf denen „Käufer“ und „Verkäufer“ nicht zueinander finden, und das Problem der Relevanz treten inzwischen gleichzeitig auf. Bliebe es langfristig dabei, wären zahlreiche Banken ab 2021 oder 2022 nicht in der Lage, ihren Personalbedarf durch externe Rekrutierung rechtzeitig zu decken.

Die erste Priorität besteht daher ohne Frage darin, die institutseigenen Karriereseiten zu modernisieren. Dabei geht es nicht nur um optische Anpassungen, sondern um die Anpassung an Nutzergewohnheiten, es geht um die Usability, die Gestaltung eines reellen informatorischen Mehrwerts für den Nutzer, die Vermeidung von Medien- und Systembrüchen sowie die Digitalisierung und Integration der personalwirtschaftlichen Prozesse. Das ist nicht trivial, und es ist jetzt schon zeitkritisch. Rekrutierungen, die für das Jahr 2019 geplant sind und im besten Fall auch gelingen, können unter Aspekten der erforderlichen Qualifikation längst nicht mehr alle entstehenden Bedarfe abdecken.

Hinsichtlich der empirischen Daten ist auf ein weiteres, zumeist stiefmütterlich betreutes Thema hinzuweisen: die Beschaffung und Steuerung externer Dienstleister. Der Umgang mit Zeitarbeitsfirmen, Direct-Search-Agenturen, Betreibern von Azubiportalen usw. ist integraler Bestandteil des Personalmarketings und -recruitings. Das Professionalitätsniveau in diesem Bereich ist aber oft erschreckend gering. Allzu oft hört man Aussagen wie „die Zusammenarbeit hat sich bewährt“, „die Beauftragung liegt vor meiner Zeit“ oder „wir wissen gar nicht genau, wer was anbietet“. Auf die Idee, Leistungen auszuschreiben, eingehende Angebote strukturiert zu bewerten und dabei Instrumente des Investitionscontrollings zu nutzen, kommen nicht einmal 10 % der Personalressorts. Derart strukturiertes Vorgehen gehört aber in das Portfolio des Recruitings, erst recht in drei bis vier Jahren, wenn altersbedingte Austritte und das geringe Erwerbspersonenpotenzial Druck auf den Personalbestand ausüben.

Grafische Darstellung der Nutzwertanalyse zur Bewertung von Personaldienstleistern (Schema)Abbildung 3: Nutzwertanalyse zur Bewertung von Personaldienstleistern (Schema)

Und wenn man schon einmal dabei ist, kann man die abgedroschene Devise „global denken, lokal handeln“ ernst nehmen und den regionalen Nahbereich sondieren. Nicht jede Bank braucht polyglotte Investmentbanker mit internationaler Vita. Regionale Arbeitsmärkte, die Kooperation mit Unternehmen, Hochschulen und Personaldienstleistern aus der Region bieten manch positive Überraschung und stärken die Arbeitgebermarke. Volksbanken und Sparkassen haben da in aller Regel eine gute Ausgangsposition. Wenn allerdings Spezialfinanzierungsinstitute oder Förderbanken, die ihren Hauptsitz in mittelgroßen Städten haben, den allermeisten Bewohnern dieser mittelgroßen Städte nichts sagen, dann ist zumindest in dieser Hinsicht etwas schiefgelaufen.

Dann kann man sich zwar immer noch auf den überregionalen oder gar internationalen Arbeitsmarkt berufen, in diesem Fall sollte aber die Homepage den jeweiligen Erwartungsstandards entsprechen. Und das Institut sollte mit den künftigen Anforderungen an das betriebliche Recruiting vertraut sein. Das betrifft insbesondere den Gegenstandsbereich „Active Sourcing“. Bislang hat man damit einzig hinlänglich bekannte Maßnahmen wie den Einsatz von Direct-Search-Agenturen, Studenten- oder Praktikantenprogramme, Talent-Relationship-Management und ähnliche Initiativen verbunden. Das wird auch so bleiben.

Mit den aktuellen und künftigen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz (KI) entstehen aber neue Optionen. Man muss nicht in die nächste unkritische Digitalisierungseuphorie verfallen, sollte das Spektrum der Möglichkeiten aber kennen und hinsichtlich der eigenen betrieblichen Bedarfe sondieren: Recht bald werden algorithmenbasierte Meta-Suchmaschinen aus den Karriereseiten der Unternehmen, aus Portalen, Social-Media-Plattformen und anderen Datenbanken Profile für Arbeitgeber und Arbeitssuchende erstellen können, die deutlich proaktiver erscheinen als die der heute geläufigen Jobportale. „Google Jobs“ ist eine dieser neuen Meta-Suchmaschinen, in Deutschland aber noch nicht verfügbar. Gleichwohl sollten sich Banken und Sparkassen auf den Trend vorbereiten und ihre Karriereseiten entsprechend strukturieren.

Es bleibt abzuwarten, ob daraus ein Personalmarketing X.0 werden kann. Immerhin sind die datenschutzrechtlichen Bedenken in Deutschland recht erheblich, und die Nutzungsintensität von neuen Technologien blieb trotz angekündigter Paradigmenwechsel jedes Mal deutlich hinter den Erwartungen zurück. Zwar hat die Virtualisierung der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmersuche die Vorherrschaft der Printmedien gebrochen, aber auf regionaler Ebene sind durchaus Tendenzen der Revitalisierung zu beobachten. „Retro“ ist in, nicht nur bei Vinyl, und so lohnt sich mindestens die Überlegung, ob man nicht auch die ein wenig in Vergessenheit geratenen Kanäle wieder nutzen sollte.

Fazit

Für das Recruiting X.0 gibt es keine Musterlösung. Fest steht aber, dass Bedeutung und Dringlichkeit von Personalmarketing und -beschaffung wieder steigen werden, auch wenn die derzeitige Szenerie ein ganz anderes Bild vermitteln mag. Banken und Sparkassen sollten also gewappnet sein. Dazu gehören Schnelligkeit, Verbindlichkeit und Professionalität im Rekrutierungsprozess. Und dazu gehören außerdem:

  1. Modernisierung der Karriereseiten
  2. Professionalisierung des Umgangs mit externen Anbietern
  3. Employer Branding in der Zielregion, regionale Präsenz und Kooperation
  4. Vorbereitung auf künstliche Intelligenz im Personalrecruiting – Stichwort „Google Jobs“

Und vielleicht an fünfter Stelle: ein wenig Retro-Chic im Recruiting; für das Personalmarketing wie für das Marketing allgemein gilt: Die Mischung machts. Nur sollte die nicht zufällig entstehen, sondern im Bewusstsein für den künftigen Personalbedarf, für technische Möglichkeiten, externe Unterstützung und das eigene Profil zusammengestellt werden.

Grafische Darstellung der Handlungsfelder im Recruiting X.0Abbildung 4: Recruiting X.0 – Handlungsfelder

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Autorin Alina Philippen

Alina Philippen

Senior Consultant Office Frankfurt

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