Barrierefreiheit: Der Countdown läuft – weniger als 100 Tage

Die bevorstehende Deadline für die Umsetzung der Anforderungen des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) stellt viele Finanzdienstleister vor große Herausforderungen. In weniger als 100 Tagen müssen sämtliche Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet sein.

Doch worauf kommt es bei einer erfolgreichen Umsetzung an und wie lässt sich eine langfristige Compliance sicherstellen? Wir erläutern, was Finanzdienstleister bei der Umsetzung beachten müssen und welche Herausforderungen sie in der Zukunft erwarten:

Welche Anforderungen des EAA gelten für das Bankwesen?

Die letzten Vorbereitungen für die Umsetzung der Barrierefreiheit gehen in die entscheidende Phase. In weniger als 100 Tagen, am 28. Juni 2025, treten der European Accessibility Act (EAA) sowie die in nationales Recht überführten Gesetze in allen EU-Ländern in Kraft. Der EAA schafft einheitliche Rahmenbedingungen und gewährleistet Menschen mit Beeinträchtigungen den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen.

Bankdienstleistungen werden im EAA ausdrücklich genannt, da sie für alle Menschen essenziell sind und somit einen der wichtigsten Bereiche des Gesetzes darstellen. Neben den offensichtlichen Produkten und Dienstleistungen wie Websites, mobilen Anwendungen und Filialen müssen auch Geldautomaten barrierefrei gestaltet werden. Zudem sind alle Dokumente, Mailings und Newsletter auf Barrierefreiheit zu prüfen und anzupassen.

Der wichtigste erste Schritt für die Umsetzung der Barrierefreiheit: ein vollständiges Audit aller bereits bestehenden und betroffenen Touchpoints, um Fehler zu identifizieren, zu priorisieren und eine Roadmap für ein Umsetzungsprojekt zu erstellen.

Warum ist Barrierefreiheit mehr als nur eine zusätzliche Funktion für Finanzdienstleister?

Stellen Sie sich vor, Sie stehen kurz vor dem Launch einer neuen Mobile-Banking-App. Monatelange Design-, Test- und Entwicklungsphasen neigen sich dem Ende zu – und dann taucht plötzlich die entscheidende Frage auf: „Ist die App eigentlich barrierefrei?“

Barrierefreiheit ist künftig kein Zusatznutzen mehr, sondern ein verpflichtender Standard für alle Produkte und Dienstleistungen. Die Devise „Einmal aufräumen“ lässt sich vor allem bei digitalen Touchpoints nicht anwenden. Ein Geldautomat mag einmal ausgetauscht und damit barrierefrei sein – doch was passiert, wenn die Website oder App ein Update erhält?

Barrierefreiheitsfehler können bei jeder Änderung wieder auftauchen. Besonders im Code kann eine kleine Anpassung dazu führen, dass sich ein bisher unbekannter Fehler einschleicht oder ein alter Fehler gar reaktiviert wird.

Barrierefreiheit muss also Teil des Prozesses und der Unternehmenskultur sein. Dabei kann Folgendes helfen:

  • Mitarbeitende schulen: Schulungen helfen, Unklarheiten zu beseitigen, und bauen interne Expertise auf. So kann die Barrierefreiheit mit wenig Aufwand kontinuierlich überprüft oder zumindest mitgedacht werden.
  • Laufende Audits: Audits während der Implementierung ermöglichen es, neue Fehler frühzeitig zu erkennen und sicherzustellen, dass Updates tatsächlich die gewünschten Fehler beheben.
  • Umsetzungsberatung: Mithilfe einer externen Beratung zu Barrierefreiheitsthemen können während des Prozesses die wichtigen Punkte angesprochen und im Blick behalten werden. So können Sie sich auf die Umsetzung konzentrieren.

Sind Overlays eine adäquate Lösung für die Barrierefreiheit von Webseiten?

Overlays allein machen eine Website nicht barrierefrei. In einem offiziellen Statement vom Dezember 2023 stellte die Europäische Union klar: „Die Behauptung, dass eine Website ohne manuelle Eingriffe vollständig konform gemacht werden kann, ist nicht realistisch, da kein automatisiertes Werkzeug alle Kriterien der WCAG 2.1 Stufe A und AA abdecken kann. Noch weniger realistisch ist es, zu erwarten, dass die zusätzlichen EN 301549-Kriterien automatisch erkannt werden.“

Eine WebAIM-Studie zeigt: Eine klare Mehrheit von 67 % der Befragten hält diese Tools für wenig bis gar nicht effektiv. Menschen mit Behinderungen äußerten sich noch kritischer: 72 % bewerteten die Tools als wenig bis gar nicht hilfreich, während nur 2,4 % sie als sehr effektiv einschätzten.[1] Overlays können zwar oberflächliche Barrieren reduzieren – etwa durch eine Anpassung des Kontrasts oder die Übersetzung in einfache Sprache –, doch sie sind nicht in der Lage, alle Richtlinien abzudecken oder eine rechtssichere Konformität zu gewährleisten.

Welche Konsequenzen drohen bei Nichteinhaltung der Barrierefreiheitsvorgaben?

Die wohl wichtigste Frage: Was passiert bei Nichteinhaltung? Jedes EU-Land ist für die Sanktionen selbst verantwortlich. In Deutschland drohen aktuell Bußgelder von bis zu 100.000 Euro, während in Österreich die Höchststrafe bei 80.000 Euro liegt. In extremen Fällen kann es sogar zur Untersagung der Dienstleistung kommen.

Die Kontrolle der Barrierefreiheit liegt in der Verantwortung der einzelnen EU-Länder. Speziell eingerichtete Stellen prüfen regelmäßig die Einhaltung der Vorgaben und bieten Endkund:innen die Möglichkeit, Barrieren direkt zu melden. In Deutschland und Österreich übernehmen die Marktüberwachungsbehörden der Bundesländer diese Aufgabe. Die Marktüberwachungsbehörde prüft kontinuierlich die angebotenen Produkte und Dienstleistungen oder reagiert auf die Meldungen von Nutzer:innen. Der Ablauf einer Kontrolle und die Verhängung möglicher Strafen folgen dabei einem festen Schema.

Wann drohen Konsequenzen bei Nichteinhaltung der Barrierefreiheitsvorgaben? Wann drohen Konsequenzen bei Nichteinhaltung der Barrierefreiheitsvorgaben?

Gibt es Ausnahmen von der Pflicht zur Barrierefreiheit gemäß EAA?

Hat Ihr Unternehmen weniger als 10 Mitarbeitende oder einen Jahresumsatz von unter 2 Millionen Euro? Dann können Sie vorerst aufatmen – aktuell sind Sie noch nicht von der Pflicht betroffen. Dennoch kann die Umsetzung der Richtlinien sich äußerst positiv auf Ihr Unternehmen auswirken.

Erfahren Sie mehr dazu in unserem Themenartikel:

Eine weitere Ausnahme bildet die sogenannte „unverhältnismäßige Belastung“. Unternehmen müssen selbst bewerten, ob die Kosten für die Einhaltung der Vorschriften unverhältnismäßig hoch sind oder ob die Umsetzung mit der angebotenen Dienstleistung nicht vereinbar ist. Dabei können sie folgende Faktoren berücksichtigen:

  • Das Verhältnis der Umsetzungskosten zu den Gesamtkosten des Unternehmens
  • Die geschätzten Kosten und deren Nutzen im Vergleich zu den Vorteilen für Menschen mit Behinderungen
  • Das Verhältnis der Nettokosten der Umsetzung zum Nettoumsatz

Nach der internen Bewertung muss die zuständige Behörde informiert und ein entsprechender Bericht vorgelegt werden. Die Behörde entscheidet anschließend, ob die Ausnahme gewährt wird. Diese Bewertung sollte unbedingt vor dem 28. Juni erfolgen, um mögliche Probleme zu vermeiden.

Warum ist die Einhaltung der Barrierefreiheitsvorgaben mehr als nur eine gesetzliche Pflicht?

Die Einhaltung der Barrierefreiheitsvorgaben ist nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern bietet auch eine Chance, Produkte und Dienstleistungen für alle Kund:innen nachhaltig zu optimieren. Mit weniger als 100 Tagen bis zur Deadline ist ein sofortiger, strukturierter Umsetzungsstart unverzichtbar. Die Konsequenzen bei Nichteinhaltung sind erheblich, und mit welcher Härte die Marktaufsichtsbehörden durchgreifen werden, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar.

Sicher ist aber: Ein bloßes „Wir arbeiten daran“ wird nicht ausreichen, um eine Klage abzuwenden. Für eine erfolgreiche, konsistente Umsetzung und damit auch eine langfristige Rechtssicherheit sind klare Verantwortlichkeiten, detaillierte Analysen, kontinuierliche Audits und langfristige Schulungsmaßnahmen essenziell.

Sie sollten nun in der Lage sein, über diese zentralen Punkte des Artikels zu sprechen:
  • Was beinhaltet das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) und auf welcher europäischen Richtlinie basiert es? Das BFSG setzt die Anforderungen des European Accessibility Act (EAA) in nationales Recht um. Ziel ist es, einheitliche Rahmenbedingungen zu schaffen und Menschen mit Beeinträchtigungen den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen, einschließlich Bankdienstleistungen, zu gewährleisten. Dies umfasst Websites, mobile Anwendungen, Filialen, Geldautomaten sowie Dokumente, Mailings und Newsletter.
  • Welche konkreten Fristen müssen Finanzdienstleister in Bezug auf die Barrierefreiheit beachten? Das BFSG tritt am 28. Juni 2025 in Kraft. Bis zu diesem Stichtag müssen Finanzdienstleister sämtliche ihrer Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet haben. Die Vorbereitungen hierfür befinden sich in der entscheidenden Phase, da die Frist weniger als 100 Tage entfernt ist.
  • Welche Schritte sind für Finanzdienstleister entscheidend, um eine erfolgreiche und langfristige Umsetzung der Barrierefreiheit zu gewährleisten? Für eine erfolgreiche Umsetzung sind mehrere Schritte entscheidend: ein vollständiges Audit aller betroffenen Touchpoints zur Identifizierung von Fehlern, die Priorisierung dieser Fehler und die Erstellung einer Umsetzungsroadmap. Zudem ist es wichtig, Barrierefreiheit als Teil des Entwicklungsprozesses und der Unternehmenskultur zu etablieren. Dies beinhaltet die Schulung von Mitarbeitenden, die Durchführung laufender Audits und gegebenenfalls die Inanspruchnahme externer Beratung.

Sprechen Sie uns gerne an!

Christoph Edlinger-Kerle / Autor BankingHub

Christoph Edlinger-Kerle

Growth Manager Office Wien
Anna Großalber / Autorin BankingHub

Anna Großalber

UX-Designerin Office Wien

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